Im September untersucht das Tanz-Kollektiv flies&tales mit CRIMINAL PLEASURES die kriminellen Anteile eines privilegierten Lebensstils und betrachtet diese selbstkritisch. Woher kommt die Lust am Verbrechen, die Faszination des Bösen?
Wer ist Opfer? Wer ist Täter:in? Oder ist die Frage danach längst hinfällig?
Lenah Flaig und Josefine Patzelt (flies&tales) im Gespräch mit Ines Langel (Orangerie Theater).
Ihr sagt, dass unser privilegiertes Leben kriminelle Anteile hat, was genau meint ihr damit?
„Naja, wir beobachten überall um uns herum schiefe Machtverhältnisse. Die globalen wirtschaftlichen Verhältnisse zum Beispiel lassen sich schon als Verbrechen beschreiben: Da reden wir von Diskriminierung, Ausbeutung und Unterdrückung. Dinge, die wir zum Vorteil weniger und zum Nachteil der Mehrheit gesellschaftlich hinnehmen. Ein krimineller Anteil eines privilegierten Lebens ist ja schon auf dieser privilegierten Seite zu stehen und sich nicht zu sorgen, was auf der anderen Seite des Globus passiert. Wenn ich mein Instagram öffne, sehe ich sowohl Berichte über Krieg als auch Schminktutorials, das clasht ja schon, was Lebensrealitäten für die einen und für die anderen sind.
Wir reden über eine westliche Mittelschicht, die Möglichkeiten hat, die der Mehrheit der Menschen verwehrt bleiben und die sich trotzdem oft im Nachteil sieht oder als Opfer der globalen Entwicklungen. Und diese Ambivalenz, die gefühlte Opferrolle und den Überfluss an Möglichkeiten, die wir als Belastung empfinden, das ist eine Schieflage, die sich in emotionalen Befindlichkeiten niederschlägt. Und die thematisieren und kritisieren wir, auch an uns selbst. Das Verbrechen behandeln wir also eher auf einer gefühlten Ebene, wie es sich durch die Ignoranz dann doch in unser aller Leben frisst.“
Glaubt ihr, dass wir diese Anteile in unserem Leben verringern können?
„Wir können uns diese Verhältnisse in erster Linie mal bewusst machen. Aber wir glauben auch, dass das Gefühl der Handlungsunfähigkeit uns in eine Art Starre bringt. In Zeiten des Erstarrens rechter Parteien durch Populismus und der Idee einer Macht von „denen da oben“, die einen kontrollieren, ist es schwer, sich vor Augen zu halten, dass man Spielräume hat, wie man selbst sein Leben gestalten möchte. Man muss erst einmal sein Denken ändern, deshalb arbeiten wir auch mit einer Stimme. Die Stimme bedient natürlich das True-Crime Genre aber sie verweist auch auf die eigene Stimme im Kopf.„
Es geht auch um True Crime, hört und schaut ihr selbst solche Formate?
„(Lenah) Josy viel mehr als ich. Allerdings erinnere ich mich noch an den Fall Natascha Kampusch. Und ich war wie besessen, mir die Talkshows in denen sie aufgetreten ist, anzuschauen. Vielleicht aber auch, weil das Opfer selbst überlebt hat und zu Wort kam. Tatsächlich habe ich aber vermehrt diese Formate konsumiert, seitdem unser Thema des Stückes feststand.
(Josy) Oh ja, ich selbst bin regelrecht vernarrt in diese Formate. Und die Frage nach dem Warum beschäftigt mich schon sehr. Ich habe meinen Konsum aber ein wenig zurückgeschraubt, denn ich finde in der Aufmachung dieser Formate neigt man doch dazu, zu vergessen, dass es sich um reale Menschen mit realen Schicksalen handelt. Ich höre aber gern dabei zu, wie komplexe Verbrechen, Leben und Verhältnisse von Menschen sortiert und eingeordnet werden, wie aus Chaos wieder eine Ordnung wird, die ein wenig Gerechtigkeit zulässt. Und das hat sicherlich damit zu tun, dass die Komplexität der Welt, die mich umgibt, meine eigene Fähigkeit einzuordnen und zu sortieren, oft überschreitet.“
Wie erklärt ihr euch, dass gerade Frauen True Crime gerne konsumieren?
„In unserer Generation sind Frauen damit aufgewachsen, immer wachsam sein zu müssen. Unsere Mütter schenkten uns irgendwann ein Pfefferspray und wir gingen mit dem Schlüssel zwischen die Finger geklemmt unseren Nachhauseweg. Es ist also für uns kein neues Phänomen, dass Frauen sich mit einer dauerhaften, potenziellen Gefahr beschäftigen. Es hat einfach etwas mit ihrer Lebensrealität zu tun. Deswegen ist es auch kein Zufall, dass in unserem Stück drei ausdrucksstarke Frauen performen.
Es gibt Theorien darüber, dass das Interesse für True Crime und die Sozialisierung als Frau, miteinander zusammenhängen. Am Ende gehört die Faszination für Verbrechen aber auch einfach zum Menschsein dazu.“
Es ist ein Tanzstück, wie bringt man solche Themen in die Bewegung?
„Das ist die Herausforderung, mit der wir bisher in all unseren Stücken konfrontiert waren: Die Übertragung von der Theorie in die Praxis. Wir nutzen das Genre des True Crimes als Stilmittel, sprich es wird ein Rätsel geben, eine Leiche, eine Tatwaffe und viele offene Fragen. Gerade in Geheimnissen und Rätseln gibt es viel Unsagbares. Wir glauben, die Sprache des Körpers wird oft unterschätzt und, dass in der Abstraktion viel verborgen liegt. Dabei denken wir, dass der tanzende Körper voller Potenzial ist, das Unsagbare sagbar zu machen. Zusätzlich arbeiten wir mit unserem Musiker Eric Eggert zusammen, der einen eigenen Crime Soundtrack komponiert und es wird auch Gesprochenes geben, denn gerade die Arbeit an der Schnittstelle von Tanz, Text und Musik finden wir spannend.“
Was denkt ihr nehmen die Zuschauer aus dem Abend mit?
„CRIMINAL PLEASURES kreiert einen Spannungsbogen und eine mysteriöse Atmosphäre, denn True Crime-Geschichten enthüllen zwar spannende Verbrechen, aber sie brauchen selbst einen Spannungsbogen, um unterhaltsam zu sein. Demnach erhoffen wir uns, dass die Zuschauer:innen selbst wie gepackt von dem Erlebten sind. Tatsächlich bringen wir persönliche Geschichten ans Licht, in denen wir mal Opfer mal Täter:in waren und versuchen so, dass die Zuschauer:innen sich fragen, wie diese Erfahrungen auf ihr eigenes Leben anwendbar sind. Damit ist nicht gemeint, ob ich im Bio-Supermarkt oder im Discounter einkaufe, sondern welche meiner Denkmuster ich selbst vielleicht kritischer hinterfragen sollte.
Eine Lösung unserer Probleme können wir natürlich nicht geben. Das sehen wir auch nicht als unsere Aufgabe. Eine neue Idee davon, wie eine True Crime Performance aussehen könnte, aber schon. Wir freuen uns besonders, wenn sich auch Menschen durch das Thema angesprochen fühlen, die sonst nicht so oft Tanz konsumieren, denn das Stück schafft durch den Grad zwischen Abstraktion und Gesagtem, ein Erlebnis, das rätselhaft und spannend ist, wie das Leben selbst.“
flies&tales
CRIMINAL PLEASURES
Do. 19.09.2024, 20:00 Uhr PREMIERE
Fr. 20.09.2024, 20:00 Uhr
Sa. 21.09.2024, 20:00 Uhr
So. 22.09.2024, 18:00 Uhr
Tickets erhältlich im VVK: https://tickets.qultor.de/orangerie-theater Reservierungen telefonisch unter 0221-9522708 & per E-Mail an info@orangerie-theater.deTicketpreise: Das solidarische Ticketing von CRIMINAL PLEASURES: 19€ Standard | 12€ ermäßigt | 8€ knapp bei Kasse (exkl. Gebühren) | Begleitperson für Schwerbehinderte frei, Ort: Orangerie Theater | Volksgartenstr. 25 | 50677 Köln